Curt Bry

 
 

Sogar dem belesenen Kabarettfreund mag der Name Curt Bry (1902–1974) kaum ein Begriff sein – oder gar gänzlich fremd. Und doch war Bry einer der führenden jungen Kabarettautoren in Berlin um 1932–33, Hausautor der berühmten Katakombe Werner Fincks und auch ein seltenes Beispiel der Doppelbegabung als Texter und Komponist in einer Person – später auch als genialer Interpret der eigenen Songs am Klavier. Daß sein Name bis heute weitgehend unbekannt ist, rührt daher, daß er erst am Anfang seiner Karriere stand, als ihr die Machtübernahme der Nazis ein Ende setzte. [...] Bevor er sich einen größeren Namen im Kulturbetrieb machen konnte, wurde sein Aufstieg gewaltsam abgebrochen. Die Interpreten, die seine Lieder kreiert hatten, wurden größtenteils ebenfalls vertrieben oder ermordet.

[...] Bei seinen ersten Kontakten zum Ping-Pong-Ensemble hatte Bry eine andere junge Sängerin kennen und schätzen gelernt: Liselott Wilke, die bald unter dem Namen Lale Andersen berühmt wurde, besonders durch ihr Soldatenlied Lili Marleen. "Auch von ihr ging die große Faszination aus, die man haben muß, um etwas zu werden," schreibt Bry in seinen Memoiren [= 1970]. "Sie stellte sich vor irgendeinen Pfeiler auf der Bühne, legte den Kopf leicht nach hinten und sang, ohne Bewegung, ohne Mienenspiel, ohne Akzente. Ihre schöne, weiche, melodische Stimme floß durch den Raum, und ihr Gesang allein trug das Lied. Die Ehrlichkeit ihrer Einfachheit war alles, was sie brauchte. Niemals ein Haschen nach Effekten – es war eher wie klassische absolute Musik – das wohltemperierte Chanson." Andersen ist eine der Wenigen seiner Mitarbeiter, die im "Dritten Reich" Karriere machte [...] [aus: Fünf Minuten Weltgeschichte. Kabarettchansons von und mit Curt Bry. Begleittext zur CD der Bear Family BCD 16069 AR, von Alan Lareau, 2006]

Im Kapitel Andersen/Bry ist jedoch eine moralische Frage zu klären, nämlich die Frage des Namensverschweigens Curt Brys auf allen Liedzetteln während der Nazizeit. Es ist nachweisbar und ausgemacht, daß sie Brys Chansons immer gerne gesungen hat, und auch während der braunen Herrschaft sowohl das Schiffsjungenlied (Backbord ist links) als auch das Seemannslied in drei Farben im Repertoire hatte (allerdings unter den Pseudonymen "Hans Aldach" oder "R. Aldag"). Wahrscheinlich stammen sogar Liebeslied am Hafen (für Paul) und Seemanns Schnaderhüpferln ursprünglich von Curt Bry.

Wenn man aber weiß, daß Lale Andersen wegen ihrer Lieder schon seit 1933 von den nationalsozialistischen Konzertleitern gerüffelt wurde, ist das Verschweigen eines jüdischen Autorennamens zumindest nachvollziehbar. Im Sommer 1933 schrieb sie in ihr Tagebuch: "Nach meinem Auftritt im Hamburger Kaffeehaus Vaterland wird zum erstenmal, solange ich singe, an meinen Chansons korrigiert! Das eine sei zu übermütig, das andere sei verdächtig sozial, das dritte von einem jüdischen Autor. Wird alles verboten. Alles Protestieren, alle Empörung nützen nichts. Selbst die Rockhosen, die ich drei Jahre auf der Bühne tragen durfte, sind ab sofort verboten. Jetzt muß ich im Abendkleid auf der Bühne stehen und fades Zeug singen. Ich werde den Vertrag lösen. Wie das allerdings menschlich und finanziell zu bewältigen ist, davor bangt mir sehr". [Litta Magnus-Andersen, S. 38]

Nun hat Lale Andersen Curt Brys Chansons weiter gesungen, allerdings nicht mehr unter seinem Namen, und hat damit wenigstens sein geistiges Schaffen für die Ohren des Publikums lebendig gehalten. Die Alternative wäre gewesen, seine Lieder gänzlich aus dem Repertoire zu streichen; damit hätte sie auch Curt Brys Schaffen während der Naziherrschaft in Deutschland totgeschwiegen. Was sie also tat, ist durchaus als ehrbar auszulegen – zumindest in Anbetracht der damaligen Zwänge.

Wie freundschaftlich der Umgang beider Künstler noch im Jahre 1965 war, geht aus einer Tagebuchaufzeichnung Lale Andersens hervor. Sie schreibt während einer Tournee aus dem kalifornischen Marina del Rey: "Wie begabt als Textautor und Komponist war Curt Bry, den ich hier gestern, nach über dreißig Jahren, wiedertraf. Er schrieb die Musik für meine ersten Chansons Schiffsjungenlied und Seemannslied in drei Farben, ehe er 1934 bei Nacht und Nebel aus Berlin emigrierte. Wieviel hat er erreicht; ein wunderhübsches Landhaus mit großem Garten und einer guten Lebensversicherung, die seiner Frau jede Sorge nimmt. Und alles durch kaufmännische Arbeit, weil es hier in der Emigration nicht klappte mit dem Komponieren von Schlagermusik. Dennoch hat er damit nie aufgehört. Stundenlang saß er am Flügel und sang mir mit seiner heiseren, verrauchten Stimme vor, was ihm während der letzten Jahre eingefallen war. Vieles ist gut, vieles ist mittelmäßig. Seine Musik wartet auf Anerkennung, die ihm aber niemand geben kann. Das schmerzt. Man trennt sich liebenswürdig und freundlich und bemüht sich, dem andern die Enttäuschung nicht zu zeigen." Danach sang sie sein Seemannslied in drei Farben (textlich zusammengekürzt zu dem Couplet Blau ist das Meer) in der Haifischbar des Norddeutschen Rundfunks – und zwar in der ersten Farbfernsehsendung dieser beliebten Show. [Litta Magnus-Andersen, S. 237]