Lale-Andersen-Archiv

Die kuratierte Datenbank deutscher Populärmusik 1930 bis 1970

Lale-Andersen-Archiv
Autor: M. Deinert
27. Oktober 2021

Der Welttag des audiovisuellen Erbes

…wird erstmals am 27. Oktober 2005 von der UNESCO ausgerufen und als jährlicher Gedenktag festgesetzt. Denn die öffentlichen wie privaten Laut-, Schall-, Rundfunk- und Fernseharchive „stellen ein unschätzbares Erbe dar, eine Grundlage unseres kollektiven Gedächtnisses. Als wertvolle Wissensquelle spiegeln sie die kulturelle, gesellschaftliche und sprachliche Vielfalt unserer Gemeinschaften wider. […] Dieses Erbe zu bewahren, dieses Erbe der Öffentlichkeit und künftigen Generationen zugänglich zu erhalten, ist eine Kernaufgabe aller Gedächtniseinrichtungen sowie der Gesellschaft als Ganzes.“

Um dieses Erbe ist es leider, zumindest in Deutschland, eher schlecht bestellt…

Während wir im 21. Jahrhundert hierzulande zwar eine vorbildliche Bibliothekenlandschaft mit umfassenden Katalogen und Digitalisierungsleistungen nutzen können (uns also das gedruckte Kulturerbe überall und leicht zur Verfügung steht und wir daraus schöpfen können), ist der Inhalt unserer gebührenfinanzierten Rundfunk- und Fernseharchive nicht recherchierbar. Schon gar nicht überall, schon gar nicht leicht. Auch nicht online, erst recht nicht vorbildlich. Die Archive sind Elfenbeintürme. Bereits eine bloße Übersicht vorhandener Sammlungen, ihrer Standorte, ihrer audiovisuellen Bestände und deren Umfänge sucht der interessierte Bürger vergebens… Doch genau um ihn zu bilden, ihn zu unterhalten und ihn zur kulturellen Auseinandersetzung anzuregen sind diese Bestände einst produziert worden. Ohne ihn, ohne den Konsumenten, ohne das Publikum gäbe es die audiovisuellen Archive gar nicht!

Das überhaupt einmal dagewesene Material – beispielsweise des deutschen Rundfunk- und Fernsehschaffens seit seinem Beginn – ist nirgendwo verzeichnet. Es wäre ein Leichtes, wenigstens Sendeprogramme, Liedlisten, Funk- und Fernsehzeitschriften von den 1920er Jahren ausgehend bis heute zu digitalisieren und recherchierbar zu machen. Diese Kärrnerarbeit aber überlässt man wie selbstverständlich Privatleuten.

TV-Programm Paul Nipkow Januar 1939
TV-Programm des Berliner Fernsehsenders „Paul Nipkow“ vom Januar 1939 | aus: LAA-Inventarnummer VII 64, Seite 85

Stattdessen beschränkt sich das bisher Verfügbare auf ein Sammelsurium von allem und nichts: Es handelt sich nicht einmal um einen Mischmasch ganzer Sendungen, sondern um Sendeteile, Fetzen, Teilstücke, wie im Angebot von NDR Retro oder BR Retro zu sehen. (Die Zeiten eines schwarzweißverliebten Senders wie 1 PLUS oder einer aufgeräumten „Fernsehtruhe“ sind ohnehin lange vorbei.)

Immerhin begannen die ARD-Anstalten am UNESCO-Welttag des audiovisuellen Erbes im Jahr 2020 mit ihrem sog. Projekt Retro. Diese Archiv-Offensive gestartet zu haben, ist natürlich lobenswert. Ganze Sendungen – also das, was wirklich über die Sender lief – wird darin allerdings nicht gezeigt; stattdessen Rohmaterial, Kurzberichte, Mini-Interviews, fast immer aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und in den allermeisten Fällen ohne jede Musik. Ja es gibt dort Beiträge, bei denen der musikalische Teil sogar hart und erkennbar herausgeschnitten wurde (beispielsweise bei Cornelia Froboess und Heidi Brühl), was die zusammenhanglosen Kurzfilmchen weiter verstümmelt.

Hinzu kommt: Kein TV-Sender bringt regelmäßig aus den nunmehr fast 90 Jahren deutscher Fernsehgeschichte seit Paul Nipkow alte TV-Produktionen, kein Radiosender seit den fast 100 Jahren deutscher Rundfunkgeschichte einen Querschnitt alter Studioproduktionen in seinem Programm. Die vollen Archive werden damit zu einem teuren Ballast, weil das laufende Programm mit dem Material, das in ihnen seit Generationen aufgespeichert ist, einfach nicht bestückt wird.

Das SWR-Archivradio (ein Internetradio und Podcast) sendet fast nur Beiträge zu politisch-historischen Themen. Andere Radiosender bringen in ihren spärlichen Archivmaterial-Sendungen (wie der Bayerische Rundfunk oder der Deutschlandfunk Kultur) fast ausschließlich Schnipsel und Zusammengeschnittenes, Politisches oder Trockenstes aus den gerade einmal letzten 30 oder höchstens 40 Jahren. Die Sendezeiten sind oft so gewählt, dass kein Durchschnittsbürger beim wahllosen Hören mehr darüber stolpern kann. Dagegen wiederholt man uns an vermeintlicher Hochkultur das Immergleiche, auf allen Sendern, nämlich immer dieselben Hörspiele – wobei selbst diese meist noch gekürzt, also verändert werden (um auf den starren, vorgegebenen Programmplatz zu passen).

Werden Filme wiederholt, so kaum welche aus der Schwarzweißzeit und immer nur Kino-, nie aber Fernsehproduktionen. Läuft Musik älteren Datums im Fernsehen oder Radio, dann auch allerhöchstens Aufnahmen aus den letzten 40 Jahren. Dagegen wird die deutsche Populärmusik von 1900 bis 1970 spürbar vernachlässigt. Sonstige Unterhaltungsformate früherer Jahre? Fehlanzeige. Im ARD-Retro-Angebot: vielfach Beiträge ohne Ton, dabei fast ausschließlich Nachrichten oder Dokus. Beiträge mit einer Länge über 15 Minuten sind die Ausnahme, da es sich überwiegend um Sendeteile, Fetzen, Teilstücke (siehe oben) aus Nachrichtenbeiträgen, z.B. aus alten Abendschauen der Regionalprogramme, handelt.

Hörzu-Bandarchiv
Titelseite der Funkzeitschrift Hörzu (42/1949) | vgl. Kalendereintrag zum 1. September 1949 | LAA-Inventarnummer I 445-C-42

Ungeschnittene Wiederveröffentlichungen historischen Sendematerials erhält das zahlende Publikum nicht von seinen Landesrundfunkanstalten. Auch das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) nimmt Wiederveröffentlichungen nicht mehr kontinuierlich vor – deren Bild- und Tonträgerangebot endete 2013. Wiederveröffentlichungen im Sinne eines repräsentativen, wertfreien Querschnitts bringen uns auch nicht die Mediatheken der einzelnen Sender ins Haus. Sondern Wiederveröffentlichungen geschehen heute meist durch private Initiativen.

Lyrik großer Sprecher? Bleibt ungesendet. Singspiele, musikalische Komödien, Funkmusicals? Finden nicht mehr statt. Bunte Abende oder Operetten? Verbannt. Kabarettsendungen und Brettl-Musik? Vergessen im Archiv. Die gesamte Sparte der Tanz- und Unterhaltungsmusik früherer Tage? Stummgestellt. Mitschnitte öffentlicher Veranstaltungen z.B. aus dem Haus des Rundfunks in Berlin oder dem Friedrichstadtpalast? Abgedreht. Historische Hafenkonzerte? Abgetakelt. Barmusik? Ausgeblendet.

Selbst Personality-Sendungen (Margot Hielscher interviewt…, Renée Franke trifft…, Hanne Wieder singt…,  Chris Howland legt auf…, Heinz Quermanns Sonntagmorgen…, Hans Rosenthals klingendes Sonntagsrätsel) bleiben eingemottet. Streaming- und Online-Kaufangebote wären hier möglich, werden aber der amerikanischen Plattform YouTube und dortigen Nutzerkanälen oder wiederum privaten Sammlungen oder Internet-Radios überlassen. Denn den „sieben Rundfunkanstalten“ und dem Deutschen Rundfunkarchiv geht es laut Zielsetzung nicht schwerpunktmäßig um die Sicherung populärer und kultureller Programmformate unseres Fernseherbes – sondern vor allem um „frühe Fernsehberichterstattung“, „regionale Magazine“, um „gesellschaftliche Entwicklung, politische Themen“.

Am Welttag des audiovisuellen Erbes sollte unter anderem auch an diese Schieflage gedacht werden. „Das kulturelle Gedächtnis organisiert sich nicht von selbst!“ Zur Rettung des audiovisuellen Erbes in unserem Land steht die Uhr (wie in so vielen Bereichen) auf 5 Minuten vor 12.

Da bereits Anfang der 1970er Jahre umfangreich gelöscht wurde, was herrschendem Zeitgeist oder senderinterner Befindlichkeit zuwiderlief (Otto Höpfners „Blauer Bock“, frühe Peter-Frankenfeld-Sendungen, alle Schwarzweiß-Ausgaben ganzer Sendereihen wie z.B. der „Haifischbar“ oder „Musik aus Studio B“, deutsche TV-Synchronfassungen von Disney bis Hitchcock, Bandmaterial der Hörfunksender, das wiederverwendet oder – weil mono – geringgeschätzt wurde, usw. usf.), von Katastrophen einmal abgesehen (z.B. dem Brand des Berliner ZDF-Archivs im August 1999), darf man sich über den Zustand und den beklagenswerten Stellenwert des audiovisuellen Erbes in Deutschland keinerlei Illusionen machen.

 

(Das UNESCO-Zitat lautet im englischen Original: „They represent a priceless heritage which is an affirmation of our collective memory and a valuable source of knowledge since they reflect the cultural, social and linguistic diversity of our communities. They help us grow and comprehend the world we all share. Conserving this heritage and ensuring it remains accessible to the public and future generations is a vital goal for all memory institutions as well as the public at large.“ Online unter World Day for Audiovisual Heritage (unesco.org) October 27, 2005)